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Islamischer Religionsunterricht im Kanton Thurgau (IRU) -
Eine Fallstudie über Chancen, Konflikte und neue Wege

Matthias Loretan, Präsident des Interreligiösen Arbeitskreises im Kanton Thurgau, ist Verfasser der Studie. Er war an der Initiierung von drei IRU-Projekten beteiligt und beriet diese im Verlaufe ihrer bald schon 15-jährigen Geschichte. Die partizipative Forschungsperspektive ermöglicht einen authentischen Einblick in die Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven des Islamischen Religionsunterrichts (IRU) im Thurgau.

Link zur Studie im PDF

Ziele und Methodik

Mit seiner Studie setzte sich Matthias Loretan das Ziel, einen praxisorientierten Beitrag zur konstruktiven Bearbeitung der sozialen und politischen Konflikte rund um den IRU zu leisten. Aus der Perspektive eines Beteiligten rekonstruiert er die Entwicklung der IRU-Projekte als einen Prozess interreligiösen Lernens und verortet diese Entwicklung im bildungs- und religionspolitischen Kontext. Zur Erarbeitung von Perspektiven für die zukünftige Weiterentwicklung des IRU führte der Autor Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der im Thurgauer Grossen Rat vertretenen Parteien. Dabei analysiert er deren Argumentationsmuster und zeigt Handlungsspielräume für politisch tragfähige Formen der Konfliktbearbeitung auf.

Wichtigste Ergebnisse

  • Innovatives Modell mit strukturellen Schwächen
    Der IRU im Thurgau wurde 2010 als Pionierprojekt in Kreuzlingen gestartet und später auf weitere Schulgemeinden ausgeweitet. Er orientiert sich am Modell des christlichen konfessionellen Religionsunterrichts, ist aber bislang strukturell schwach, lokal begrenzt und erreicht nur einen kleinen Teil der muslimischen Zielgruppe. Die Projekte werden von Moscheevereinen getragen, sind freiwillig und werden überwiegend von den muslimischen Gemeinden selbst finanziert.
     
  • Potenziale des IRU
    Der IRU fördert die religiöse Identitätsbildung, Sprachfähigkeit und Integration muslimischer Kinder. Er schafft Chancengleichheit im Zugang zu religiöser Bildung und unterstützt den interreligiösen Dialog sowie die innerislamische Verständigung. Die Schule wird als inklusiver Sozialraum genutzt, um Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.
     
  • Politische und gesellschaftliche Widerstände
    Trotz positiver Rückmeldungen der Beteiligten (Schüler, Eltern, Schulbehörden) bleibt die soziale Akzeptanz des IRU umstritten. Politische Interventionen – insbesondere von Parteien mit islamskeptischem Profil – zielen darauf ab, den IRU zu verhindern oder abzuschaffen. Die rechtliche Grundlage der lokalen Projekte ist prekär und basiert auf pragmatischen, rechtlich niederrangigen Regulierungen.
     
  • Begründungsstrategien der Parteien
    Die Interviews mit den Vertretern der politischen Parteien zeigen ein breites Spektrum an Positionen: Während einige Parteien den IRU als integratives und vertrauensbildendes Experiment unterstützen, lehnen andere ihn aus ordnungspolitischen oder identitären Gründen grundsätzlich ab. Die Gegner sehen im IRU eine Gefährdung für die säkulare und/oder christlich geprägte Leitkultur und befürchten kulturelle Ghettobildungen. Die Befürworter betonen Inklusion, Rechtsgleichheit und die Bedeutung religiöser Bildung für die Integration.
     
  • Empfehlungen und Handlungsperspektiven
    Die Arbeit plädiert für eine rechtlich klarere, aber weiterhin pragmatische Regulierung des IRU auf kantonaler Ebene, welche Kooperationen der Schulgemeinden mit privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften ermöglicht. Um die aktuelle Lähmung zu überwinden, rät Loretan den IRU-Verantwortlichen und ihren Verbündeten, ihre Anliegen proaktiv in den demokratischen Entscheidungsprozess einzubringen und dabei gemeinsame Werte wie Bildungsgerechtigkeit und Integration zu betonen. Ein konstruktives Reframing des Themas – weg von Defizitnarrativen hin zu einer Betonung der Chancen religiöser Vielfalt – wird als Schlüssel für die Zukunft empfohlen.
     

Fazit
Die partizipative Forschung macht deutlich: Der Islamische Religionsunterricht im Thurgau ist ein Labor für gesellschaftlichen Wandel. Er zeigt, wie Konflikte produktiv bearbeitet und wie Integration und Dialog in einer pluralistischen Schweiz gelingen können.

 

Literatur und weiterführende Links:

Loretan Matthias: Islamischer Religionsunterricht an der Volksschule im Kanton Thurgau. Fallstudie über einen sozialen Konflikt. Masterarbeit 2025.

Interreligiöser Arbeitskreis im Kanton Thurgau (Hrsg): Lehrplan Islamischer Religionsunterricht Thurgau. 2025.

Schmid, Hansjörg/René Pahud De Mortanges/Andreas Tunger-Zanetti/Tatiana Roveri: Religiöse Diversität, interreligiöse Perspektiven und islamischer Religionsunterricht in der Schweiz, in: SZIG/CSIS-Studies, Freiburg (Schweiz), Schweiz: Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG), 2023a.

Schmid, Hansjörg/Noemi Trucco/Isabella Senghor/Ana Gjeci: Soziale Konflikte: Potenziale aus sozialwissenschaftlicher, islamischer und christlicher Perspektive, in: Theologischer Verlag Zürich eBooks, 1. Aufl., Zürich, Schweiz: Beiträge zu einer Theologie der Religionen, 2023b.